JUNI 2025

FORM OHNE FUNKTION – WARUM DESIGN NICHT IMMER ETWAS LEISTEN MUSS

In der zeitgenössischen Designrhetorik ist das Ziel allgegenwärtig. Gestaltung soll lösen. Vereinfachen. Optimieren. Sie wird Werkzeug, Funktion, Dienst am Zweck. Die Frage nach dem „Warum?“ steht am Anfang jeder Entscheidung – als müsste sich jedes visuelle Element seiner Existenz erst würdig erweisen. Gestaltung, so scheint es, darf nicht einfach sein – sie muss etwas bewirken.

Doch was, wenn sie das weder will noch muss? Was, wenn Design nicht immer eine Antwort ist – sondern manchmal nur eine Frage? Nicht das Ergebnis eines Bedarfs, sondern der Ausdruck eines inneren Impulses – wie bei einem Kind, das aus sieben geometrischen Tangram-Teilen eine Katze legt. Nicht, um etwas zu lösen, sondern um etwas entstehen zu lassen.

Es gibt Formen, die nicht erklären wollen. Farben ohne Zweck. Räume, die sich nicht effizient nutzen lassen – und gerade darin liegt ihre Kraft.

Nehmen wir das berühmte Bauhaus-Diktum: „Form follows function“. Ein Leitsatz, der Gestaltung auf Nützlichkeit reduziert. Doch selbst im Bauhaus entstanden Entwürfe, die über reine Funktion hinausgingen – spielerisch, experimentell, absichtslos. Räume, die zum Verweilen einluden, ohne klaren Zweck. Plakate, die eher abstrahierten als bloß zu informieren. Hier wird Gestaltung zur Erfahrung – nicht zur Lösung.

Oder der Ulmer Hocker: kein Sitzmöbel im Sinne von Komfort oder Ergonomie, sondern ein Zeichen von Reduktion, Präsenz, Ruhe. Er fordert uns nicht zum Sitzen auf, sondern zum Innehalten. Zur Wahrnehmung des Objekts – und damit auch des eigenen Selbst. Gestaltung wird zur Einladung, zur Meditation.

Die Vorstellung, dass Design nur dann „gut“ sei, wenn es ein Problem löst, wurzelt tief im Funktionalismus. Doch gutes Design darf auch scheitern, zweifeln, schweben. Es darf offen, absichtslos, ziellos sein – sich jeder Rationalisierung entziehen und dennoch Bedeutung tragen.

In der Kunst ist das längst selbstverständlich: ein Gemälde, das nicht illustriert, sondern Atmosphäre schafft. Ein Musikstück, das nicht erzählt, sondern einen inneren Raum öffnet. Warum sollte Gestaltung nicht ebenso frei sein dürfen?

Design kann – ohne Funktion zu leugnen – Momente schaffen, die über Nützlichkeit hinausgehen: Momente des Staunens, der Stille, des Spiels. Es nähert sich der Kunst, ohne seine Identität zu verlieren. Zweckfreiheit wird nicht zum Widerspruch, sondern zur Erweiterung des Gestaltungsbegriffs.

Denn manchmal ist es gerade das Zweckfreie, das uns berührt. Das scheinbar Unnötige, das uns innehalten lässt. Gestaltung darf Spiel sein, Andeutung, Poesie. Sie muss nicht funktionieren, um zu wirken.

In einer Zeit, in der alles messbar und verwertbar sein will, ist zielloses Gestalten ein stiller Protest. Gegen die Ökonomisierung jedes Moments. Gegen den Imperativ der Effizienz. Gegen die Vorstellung, dass nur das Nützliche Wert besitzt.

Gestaltung ohne Ziel ist kein Mangel – sie ist ein Freiraum. Und vielleicht ist es gerade dieser Freiraum, in dem sich das Essenzielle zeigt: nicht als Funktion – sondern als Gefühl. Nicht als Antwort – sondern als Ahnung.

Ein klassisches Beispiel ist das japanische Konzept des Ma – der Raum zwischen den Dingen. Ein bewusster Zwischenraum, weder leer noch ungenutzt, sondern geladen mit Bedeutung. Dieser „Nicht-Ort“ ist keine Lücke, sondern eine Geste – ein Moment des Innehaltens, der Wahrnehmung, der Interpretation.

Ebenso kann ein puristisches Logo – kaum mehr als eine geometrische Form – mehr auslösen als ein überladenes Emblem. Weil es Raum lässt: für Vorstellung, Assoziation, Erinnerung. Es will nicht erklären – es will berühren.

Vielleicht liegt gerade in der vermeintlichen Ziellosigkeit ein höherer Sinn. Eine Wahrheit jenseits der KPIs – spürbar im Dazwischen. Dort, wo die angewandte Kunst endlich aufhört, etwas zu wollen, und einfach nur ist.